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Müller – ein Mensch zum identifizieren

Der Historiker Hans Woller hat eine Biografie geschrieben über den Ausnahme-Fußballer Gerd Müller: „Gerd Müller, oder wie das große Geld in den Fußball kam!“ Seine Erfolge und seine Alkoholprobleme machten Müller zu tragischen Figur. Style PASS sprach mit Woller über seine aufwendige Recherche und warum Müller noch heute der Star der Herzen ist.

Style PASS: Herzlichen Glückwunsch zum „Fußballbuch des Jahres“!

Hans Woller: Danke, das war natürlich eine große Ehre, dass ich den Preis bekommen habe. So viele Preise habe ich in meinem Leben nicht erhalten – ist schon eine besondere Sache.

Style PASS: Herr Woller, über den Fußballstar Gerd Müller ist bereits das eine oder andere Buch geschrieben worden – Ihre Biografie über ihn wurde zum „Fußballbuch des Jahres“ gekürt. Was denken Sie, ist das Besondere an ihrem Zugriff auf den Weltfußballer Müller?

Über Fußballer schreiben im Regelfall Journalisten, die aus einer gewissen Nahoptik heraus berichten. Diese Bücher sind voller Anekdoten, meist wird aber nicht versucht, die Geschichte des Fußballs in die allgemeine Zeitgeschichte einzuordnen. Bei meinen Kollegen, den Historikern, hat sich bislang noch so gut wie niemand um den Fußball gekümmert. Fußball ist etwas, was die Herzen und Gemüter bewegt, aber das soll in der Geschichtsschreibung keine Rolle spielen? Das wollte ich ändern! Ich wollte die ,Geschichte des Fußballsʻ zusammenbringen mit der allgemeinen Zeitgeschichte. Ich wollte nach der Verbindung zwischen Fußball und den Medien fragen, ich wollte nach Fußball und Medizin fragen, und ich wollte vor allem etwas schreiben über die Verbindung von Fußball und Politik. Das glaube ich – ohne mich zu sehr in Selbstlob zu versteigen – hebt mein Buch ab.

Style PASS: Wie haben Sie für Ihr Buch recherchiert?

Ich habe mir Gerd Müller durch die Brille des Historikers angeschaut. Ich habe alte Zeitungen gelesen, monatelang saß ich in Bibliotheken und Archiven, wie im Staatsarchiv oder dem DFB- Archiv, zusätzlich habe ich um die 60 Zeitzeugen interviewt. Daraus schöpfe ich in der Biografie.

Style PASS: Wie sind sie an die Zeitzeugen gekommen?

Zunächst hatte ich einen Kontakt zu dem ehemaligen Sportchef der Süddeutschen, der mir viele Türen geöffnet hat. Dann hat sich das wie im Schneeballsystem entwickelt.

Style PASS: Gerd Müller ist ein Mensch mit Brüchen: Armut in der Kindheit, viel Geld durch den Fußball, dann Alkoholprobleme. Wie sehen Sie den Menschen Müller? Wie ist sein Charakter, was zeichnet ihn aus, was waren seine Schwächen?

Das war ein großes Anliegen meines Buches. Gerd Müller wird oft als armer Tropf, als „Simpel“, als eindimensionaler Mensch dargestellt, weil er vor Fernsehkameras nicht die beste Figur gemacht hat, weil er vor Interviews Angst hatte, weil er Dialekt sprach, weil er auf der gesellschaftlichen Bühne nicht so trittfest war – das ist alles richtig, aber Gerd Müller hatte auch ganz andere Seiten. Diese kamen im kleinen, vertrauten Kreis zur Geltung, dort, wo er sich sicher fühlte: Da konnte er witzig sein, da konnte er schlagfertig sein, sehr kommunikativ. Ganz zu schweigen, und das ist eine große Stärke von Gerd Müller gewesen, von seiner Ehrlichkeit. Ich würde auch seine Großzügigkeit nennen, übrigens auch in finanziellen Dingen, z.B. seinen Fußballkameraden entgegen. Gerd Müller ist eine differenziertere Figur, als sie in der öffentlichen Wahrnehmung oft gesehen wird.

Style PASS: Heute ist das anders, da fragt man sich angesichts gewisser rhetorischer Schnittmengen schon, ob manche Spieler beim selben Kommunikationscoach sitzen!

Gerd Müller hat nie in irgendwelchen vorgestanzten Sätzen gesprochen; er sprach,wie ihm der Schnabel gewachsen war, ohne Rücksicht auf taktische Überlegungen. Er hat sich mehrmals mit dem Präsidenten des FC Bayern München richtig angelegt, er hat sich mit dem Bundestrainer Helmut Schön gestritten – er hat gegen Autoritäten rebelliert. Er war ein Typ, der auch „Mumm“ hatte.

Style PASS: Gerd Müller wird oft als Instinktfußballer beschrieben. Ist der so genannte Torinstinkt „nur“ angeboren, oder kann man ihn auch lernen?

Niemand würde von einem „Instinktpianisten“ sprechen. Gerd Müller hatte Talent, aber hat enorm viel getan, um dieses Talent zu entwickeln und auszuschöpfen. Als Kind hat er geradezu fanatisch trainiert. Auch bei Bayern München hat er ein enormes Trainingspensum absolviert.

Style PASS: Den Bayern, speziell Uli Hoeneß, wird ein ausgeprägtes Fürsorgeverhalten nachgesagt. Deckt sich das mit Ihren Recherchen, nun einmal abgesehen von Gerd Müller, wo diese Hilfen evident wurden?

Ich habe mich mit Uli Hoeneß nicht intensiv beschäftigt. Was Müller angeht: Beim FC Bayern München wusste man in den 80ern, Anfang der 90er Jahre schon, dass es Gerd Müller sehr schlecht ging. Der Verein hat zunächst nichts getan, „Alkoholprobleme“ seien „Privatsache“. Der Verein hat erst reagiert, als ein enger Freund Müllers zu Hoeneß und Beckenbauer ging und ihnen die Pistole auf die Brust gesetzt hat: Er drohte, an die Öffentlichkeit zu gehen. In dieser Situation hat der FC Bayern sehr großzügig reagiert. Hoeneß hat Müller zu einer Entziehungskur überredet und ihn in den Verein zurück geholt. Müller stand bis zu seinem Tod auf der Gehaltsliste des FC Bayern München. Hoeneß und Co. haben Müller gerettet, da war viel Dankbarkeit Müller gegenüber im Spiel, aber natürlich auch Kalkül – hätte es geheißen, der Verein lässt Müller im Stich, wäre das extrem geschäftsschädigend gewesen.

Style PASS: Die Situation war extrem?

Es ist immer wieder geschrieben und mir gesagt worden, dass Müllers Leben in der Entziehungskur am seidenen Faden hing.

Style PASS: Haben Sie eine Theorie, warum Müller so stark alkoholkrank wurde?

Da kamen einige Sachen zusammen: Müller hat schon in seiner aktiven Zeit, in der zweiten Hälfte der 70er Jahre viel getrunken. Er ist mit dem Stress des „immer Tore schießen müssen“ nicht zurecht gekommen. Die Konkurrenz innerhalb des Vereins war sehr groß, oft stand er im Schatten von Beckenbauer. Hinzu kam, dass er nicht so recht wusste, was er nach seiner Karriere machen sollte, dann kamen Steuerprobleme mit Steuerhinterziehung hinzu, auch Eheprobleme. 1979 ging er nach Amerika, da ging es besser, er hat zwei Jahre gut gespielt, ehe er einige unternehmerische Missgriffe machte. Er betrieb ein Restaurant, das erst gut lief, dann aber ein Fass ohne Boden war.

Style PASS: „Kleines dickes Müller“ nannte ihn „Tschik“ Caikovski, dabei war der Trainer mindestens zehn Zentimeter kürzer als Gerd Müller. Kam einem Gerd Müller seiner stämmigen Oberschenkel wegen nur so klein vor?

Gerd Müller war 1,76 Meter groß.

Style PASS: Ist ja nicht so klein!

Er hat anfangs 80/82 Kilo gewogen. In seiner besten Zeit, 1970 ca. 73 Kilo – das würde ich eher schlank nennen.

Style PASS: Also stimmt der Spruch so nicht.

An ihm ist dieses Etikett hängen geblieben. Müller ist auch im Kreise seiner Mannschaft oft verspottet worden. Wenn Sie die Memoiren von Beckenbauer oder Sepp Maier lesen, da finden sie eine Reihe von abfälligen Bemerkungen gegen Müller.

Style PASS: Beckenbauer und Müller – sicherlich sehr unterschiedliche Typen!

Beckenbauer hat jedes Interview, jede Autogrammstunde mitgenommen. Wer was von Beckenbauer wollte, hat es in der gewünschten Form von ihm bekommen. Gerd Müller konnte das so nicht, er wollte die hemmungslose Selbstvermarktung aber auch nicht.

Style PASS: Erfolg schenkt einem viele Freunde, darunter auch viele falsche. Wie kann sich ein Fußballer innerlich stärken, um dem Leben auch nach dem Fußball gewachsen zu sein?

Fußballspieler unterscheiden sich von „normalen“ Arbeitnehmern insofern, als dass mit der Karriere Mitte 30 Schluss ist. Sie haben das Leben noch vor sich, die Taschen voller Geld und stellen sich die Frage: Was stelle ich mit dem Leben an? Diese Sinnfrage hat sich auch Müller gestellt. Heute haben Fußballspieler oft Perspektiven in den Vereinen, Firmen oder in den Medien als Kommentatoren. In den 70er Jahren war das noch eher die Ausnahme. Das Beste ist, denke ich, auf Bildung zu setzen, ins Ausland zu geben und interessante Leute zu treffen. Ich bin aber kein Lebensberater.

Style PASS: Was ist dran am Fußball, dass wir auch Jahrzehnte später noch von Gerd Müller, vielleicht auch von legendären Kopfballungeheuern oder einer „linken Klebe“ schwärmen?

Ich bleibe erstmal bei der Figur von Gerd Müller. Wesentlich ist, dass Fußballfans letztlich Romantiker sind. Sie verzweifeln oft an dem modernen Fußball: das ganze Geld, die Scheichs und Oligarchen, die Abgehobenheit der Stars mit den ewig gleichen Plattitüden. Fußballfans sehnen sich nach Typen wie Müller, mit denen sie sich auch identifizieren können. Gerd Müller, die „ehrliche Haut“, der „bodenständige Kerl“, der auch mal einen Fehler machen kann – mit ihm konnte man sich eben identifizieren. Er bliebt nicht nur wegen seiner Tore, sondern auch wegen seines Charakters in Erinnerung. Müller ist das Paradebeispiel des modernen Märchens: ein Aufstieg aus dem Nichts, dann ein Höhenflug wie Ikarus – dann der steile Absturz und die Rettung durch gute Freunde.

Style PASS: Und die Faszination des Fußballs?

Für mich ist Fußball auch eine Form von Kunst. Wenn ich mir die Sportschau ansehe und ich sehe wunderbare Spielzüge, ich sehe, wie ein Torwart in die Ecke fliegt - für mich hat das etwas mit Kunst zu tun. Wenn die Spieler auch noch so viele Phrasen von sich geben, wenn die Funktionäre noch so arrogant sind – ich bin dennoch Fußballjunkie! Wenn ich einen tollen Pass sehe, habe ich all das zweifelhafte Drumherum vergessen!

Vielen Dank für das Gespräch und viel Erfolg mit Ihrem aktuellen Buch!

Mit Hans Woller sprach Style PASS-Herausgeberin Eva Britsch

Style PASS gratuliert

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